Als ich ein kleines Mädchen war – Teil 1:  Kindheit am Kotti in Berlin

Auf einmal kommen mir Episoden aus meiner Kindheit in den Sinn. Wahrscheinlich, weil ich gerade Erich Kästners „Als ich ein kleiner Junge war“ lese und wie er aus seiner Kindheit in Dresden berichtet. Auch ich denke gerne an meine Kindheit und Jugend zurück. Meist mit einem Lächeln auf den Lippen und einer großen Portion Wehmut, auch wenn nicht alles immer schön war.

Als ich ein kleines Mädchen war

Während meiner Grundschulzeit, als ich in der 3. und 4. Klasse war, es war in den 80er Jahren und in Berlin stand noch die Mauer, da lebten meine Eltern und ich am damals schon verruchten Hotspot „Kottbusser Tor“ (Kotti) mitten in Berlin-Kreuzberg. Das Kottbusser Tor war zu dieser Zeit noch eine einzige große Baustelle und ich spielte dort mit Anja, einem Mädchen aus dem 11. Stock des Hochhauses und mit Karim, einem kleinen ausländischem Jungen sowie dessen größerem Bruder Sala aus dem 2. Stock in den U-Bahn-Schächten der legendären „Linie 1“ sowie auf den ausgehobenen Baugruben, auf denen der Senat damals große Wohnblöcke errichten ließ. In einem der ersten dort errichteten Wohnblöcke wohnten wir in einer wirklich sehr schönen, relativ großen und gut geschnittenen Wohnung mit zwei Bädern und einem Müllschlucker auf jedem Stockwerk. Die Baugruben eigneten sich hervorragend, um dort im kalten und schneereichen Winter Schlitten zu fahren.

Meine Grundschule befand sich in einem uralten Backstein-Gebäude direkt am Fraenkelufer am idyllischen Landwehrkanal gelegen unweit der bekannten „Admiralbrücke“, auf der heutzutage Abends Menschentrauben sitzen, trinken, klönen und Party machen. Das war damals aber noch nicht so. Da war es einfach eine normale Brücke, über die man ging, wenn man zum Urban-Krankenhaus und Urbanhafen gehen wollte. Wir Kinder spielten dort auf den Wiesen des Ufers oder setzen uns in die Gänseblümchen und flochten Gänseblümchengirlanden. Ja, auch eine Kindheit in Kreuzberg konnte schön sein.

Vom Kotti zum Nolli

Oft spielten wir in den unterirdischen Gängen des U-Bahn-Schachtes Kottbusser Tor, wo die legendäre U-Bahn-Linie 1 fuhr. Einmal die Woche fuhr ich als 9-jähriges Mädchen mit der Linie 1 vom Kottbusser Tor zum Nollendorfplatz. Dort befanden sich im Metropol-Theater die Räumlichkeiten des Christlichen Zentrums Berlin, dessen bekannter Pastor Volkhard Spitzer in den 80er Jahren das Berliner Olympiastadium in einem Anfall von Größenwahn für die „Berliner Bekenntnistage“ mietete und Christen aus aller Welt nach Berlin einlud, um die größte Evangelisation auf Europäischem Boden abzuhalten. So groß war sie dann doch nicht, denn es kamen nur ein paar Tausend Menschen. Das war trotzdem ein Ereignis damals. Ich ging dort am Nolli in die Kinderstunde und sang im Kinderchor. Zu den Chorproben fuhr ich mit der Linie 1 vom Kotti zum Nolli allein durch Berlin. Im Obergeschoss der Station Nollendorfplatz befand sich damals ein Trödel- und Antikmarkt in alten U-Bahn-Waggons auf einem stillgelegten Gleis.

Hansa Tonstudio

Dann hieß es, dass wir christliche Kinderkassetten aufnehmen sollten und ich wurde ausgewählt, ein paar Lieder solo zu singen. Das war natürlich der Hit und ich war mächtig aufgeregt, dass man sich nach dem Vorsingen einiger Kinder ausgerechnet für mich entschieden hatte. Die Tonaufnahmen für die Musikkassetten wurden dann im legendären „Hansa Tonstudio“ am damaligen Anhalter Güterbahnhof eingespielt. Das war mega aufregend, in diesen heiligen Hallen zu sein, in denen schon David Bowie, Depeche Mode, Falco, U2 und andere Musiklegenden ihre Platten einspielten. Ich erinnere mich noch an die braunen teppichartigen Dämmschutzwände und an eine Ampel am Aufnahmestudio, die durch Rotlicht anzeigte, ob innen gerade eine Aufnahme stattfindet. Dort saß ich dann für ein Solo-Lied allein auf einem Hocker mit einem jungen Mann, der mich an der Gitarre begleitete und sang in meiner glockenklarsten Mädchenstimme das Lied vom kleinen Mann Zachäus dem Zöllner, der unbedingt mal Jesus sehen wollte und dazu auf einen Maulbeerbaum stieg, um einen Blick vom Gottessohn zu erhaschen. Ich kann heute noch sämtliche Strophen des Liedes auswendig. Ein, zwei Mal mussten wir es wiederholen, bis es im Kasten war. Hinter einer großen Scheibe saß der Aufnahmeleiter und meine Chorleiterin und beide zwinkerten mir ermutigend zu. Das war ein unvergessliches Erlebnis.

Klein Istanbul

In der Klasse waren wir nur drei deutsche Kinder. Schon damals in den frühen 80er Jahren war Kreuzberg oder besser gesagt „Klein Istanbul“ fest in türkischer Hand. Mein Schulkamerad André wohnte mit seinen Eltern, die Künstler waren, in einem wunderschönen Gründerzeithaus am idyllischen „Paul-Lincke-Ufer“ am Landwehrkanal und die andere deutsche Schulkameradin Helene wohnte ganz in meiner Nähe kurz hinter der Admiralbrücke. Wir drei deutschen Kinder waren in der Klasse nur für uns und spielten miteinander in der großen Pause auf dem Schulhof und auch danach. Mit den türkischen Kindern hatten wir überhaupt keine Berührungspunkte. Bis auf ein Mal. Da hatte ich ein schlimmes Erlebnis, das mir noch Jahre später in schrecklicher Erinnerung blieb.

Gülten und Gülseren

Es gab zwei Mädchen in meiner Klasse, Gülten und Gülseren, die beide schon viel älter waren als ich es mit meinen 9 Jahren war. Sie waren schon so um die 13 Jahre alt und von großer Statur und trugen so wie alle türkischen Mädchen schon damals Kopftücher. Einer sagte, sie würden bald nach Anatolien verheiratet werden. Sie konnten nicht gut Deutsch und kamen im Unterricht aufgrund mangelhafter Sprachkenntnisse kaum mit. Von diesen beiden frechen Mädchen hielt ich mich so gut es ging fern. Einmal jedoch gelang es mir nicht. Ich hatte damals längere blonde Haare und eines Tages passten sie mich auf dem Schulhof nach der Schule ab, ich hatte mir noch in einem kleinen Laden Glanzbilder gekauft, die wir Mädchen damals sammelten und tauschten, da zogen sie mich in eine dunkle Ecke und rissen mir büschelweise meine Haare aus. Das war sehr schmerzhaft aber noch schlimmer war meine Angst, weil ich nicht wusste, was mit mir geschah. Ich hatte denen nichts getan und ging einfach meiner Wege und dann dieser brutale Überfall. Ich denke heute, dass diese beiden Mädchen von zuhause gelernt hatten, dass eine Frau sich den Kopf zu bedecken hat mit einem Kopftuch und dass es ganz verwerflich ist, offen seine Haare zu zeigen. Diese beiden Mädchen waren von zuhause so konditioniert.

Warum sage ich das?

Nun, ich denke einfach, dass dieser Clash der Kulturen so gut wie kaum überwunden werden kann. So sehr linksgrüne Fantasten und Eine-Welt-Apologeten das herbeireden möchten. Hier prallen Welten aufeinander. Es sind nicht nur unterschiedliche Weltanschauungen und familiäre und kulturelle Prägungen sondern hinzu kommt noch der fundamentalistische Glaube, der ein friedliches Zusammenleben so gut wie unmöglich macht. Jedenfalls habe ich das damals schon im Berlin der 80er Jahre so erlebt. Jeder war unter sich. Fast. Die beiden Brüder Karim und Sala waren eine Ausnahme. Sie spielten ganz selbstverständlich mit mir als Mädchen und der große Sala passte immer auf mich auf. Das war toll.

Die Mauer

Berlin war damals eine Insel. Manche sagen, eine Insel der Glücklichen. Und Kreuzberg war damals das Ende der Welt. Oftmals gingen wir vom Kotti aus die Adalbertstraße runter bis zum Bethaniendamm. Das war der Grenzstreifen zwischen Kreuzberg und Mitte. Da war die westliche Welt zuende. Und hier stand sie dann: Die Mauer. Hinter der Mauer befand sich der breite Grenzstreifen mit Aussichtshäuschen der DDR Grenzer und spanischen Reitern, die Fahrzeugen ein Passieren unmöglich machen sollten. Dann gab es noch eine weitere Mauer, die Hinterlandmauer. Irgendwie war es idyllisch an der Mauer entlang spazieren zu gehen, vorbei am Künstlerhaus Bethanien, aus dem man Klavierspiel und Gesang hörte und das eingebettet hinter der Natur sich überlassenden Sträucher, Gräser und Büschen versteckt und eingewachsen lag. Es war eine unendliche Ruhe und Stille dort auf diesem Mauerweg. Ab und zu gab es einen Aussichtsturm, von dem aus man weit in den Osten blicken konnte. Da sah man manchmal in der Ferne Menschen, die aus ihren Fenstern lehnten und sehnsuchtsvoll in den Westen blickten. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Ich winkte immer hinüber in der Hoffnung einer würde mein Winken sehen.

Besuch bei meiner englischen Freundin in Dahlem-Dorf

Einmal wurde ich für ein Wochenende von meiner Freundin Christine nachhause eingeladen. Sie wohnte mit ihren Eltern im schönen Stadtteil Dahlem Dorf. Ihr Vater war bei der Armee und als Engländer in Berlin stationiert. Meine Mutter brachte mich mit der U-Bahn vom hektischen, verkehrsreichen Kotti in das ländliche, idyllische Dahlem. Unfassbar, dass das auch noch Berlin war, dachte ich mir damals. Wir stiegen an der Station „Dahlem Dorf“ aus und liefen durch ein Dorf zum Einfamilienhaus von Christines Eltern. Es stand inmitten von Feldern und Wiesen. Wahnsinn. Eine andere Welt war das. Wir spielten in den Korn- und Maisfeldern und übernachteten im Garten des Hauses in einem Zelt. Das war ein Abenteuer. Die Mutter von Christine kochte uns leckeren Vanille-Pudding und ich verlebte zwei schöne Tage in einer ganz anderen Welt.

Märkisches Viertel

Eine andere Freundin, Jenny, lud mich ebenfalls für ein Wochenende zu sich nachhause ein. Sie lebte mit ihren Eltern in der Trabantenstadt „Märkisches Viertel“ in einem Hochhaus. Sie hatten dort eine Wohnung auf zwei Etagen mit jeweils einem eigenen Eingang. Das fand ich irgendwie faszinierend. Draußen spielten wir auf einem Bauplatz, auf dem Kinder und Jugendliche sich Hütten bauten. Besonders anheimelnd fand ich es jedoch nicht dort.

Eislaufen im Europa Center

Manchmal ging meine Mutter mit mir Eislaufen im Europa-Center am Breitscheidtplatz. Das ist das große Hochhaus mit dem sich drehenden Mercedes Stern oben drauf. Damals gab es im Untergeschoss des Europa-Centers eine Eisbahn. Das war toll und hat riesig Spass gemacht dort auf dem Eis inmitten von Geschäften und Trubel seine Runden zu drehen.

Grenzübergang Dreilinden

Als es dann auf den Urlaub zuging, war ich immer ganz aufgeregt. Meistens fuhren wir nach Italien an die Adria oder Riviera in den Urlaub. Da meine Oma in Bamberg lebte, war dort der erste Zwischenstopp. Aber zuerst einmal mussten wir den legendären Grenzübergang Dreilinden in Berlin passieren um dann durch die DDR nach Westdeutschland zu kommen und das dauerte und war einigermaßen aufregend. In langen Autokolonnen standen die PKWs dort am Grenzübergang Dreilinden eingereiht und die Pässe mussten auf eine Art Laufband gelegt werden um dann vorne in den Grenzhäuschen von misstrauisch dreinblickenden DDR-Grenzern mit Argusaugen überprüft zu werden. Ich fragte mich, ob die wohl zuhause auch immer so grimmig und schlecht gelaunt drein guckten. Irgendwie hatten wir alle immer ein mulmiges Gefühl und waren froh, wenn wir endlich mit unseren Ausweisen durch waren und dann im Schneckentempo durch die Zone in Richtung West-Deutschland fuhren.

Irgendwann war es geschafft und der Grenzübergang Herleshausen in Sicht. Langsam fiel die Anspannung von uns ab und die Vorfreude auf einen ungetrübten Urlaub im sonnigen Süden machte sich in uns breit. Und natürlich der Besuch bei der Oma und dem Bär Poldi in Bamberg. Davon werde ich das nächste Mal berichten.

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